Die Suche nach der Stunde „Null“ – nach Tradition

Die Suche nach der Stunde „Null“ – nach Tradition

Auf der 6. Militärhistorischen Tagung der Luftwaffe in Berlin stand der Begriff der „Tradition“ im Vordergrund: Hat die Bundeswehr, und damit jede ihrer Teilstreitkräfte, die Stunde „Null“ je erlebt? Also eine Zeit frei von Einflüssen, die aus einer Epoche vor Gründung unseres freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates stammen. Wann beginnt die Tradition der Bundeswehr? Oder belebt sie sich ständig neu? Ein Thema, das aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und heiß diskutiert wurde.

Die Militärhistorische Tagung findet alle zwei Jahre statt. Die Teilnehmenden sollen sich dort kontrovers mit historisch-politischen Themen auseinandersetzen können. (Quelle: Luftwaffe/Francis Hildemann)

Gegründet als eine „Armee im Kalten Krieg“, gewachsen zu einer „Armee der Einheit“ nach der deutschen Wiedervereinigung, spricht man heute von der Bundeswehr als eine „Einsatzarmee“. Ab welchem dieser Punkte der Traditionsgedanke in den deutschen Streitkräften dieser Tage ansetzen sollte, ist ansichtssachte. Denn historisch betrachtet, gibt es die Stunde „Null“ für die Bundeswehr nicht.

Blick zurück zu den Anfängen

Tatsache ist, dass die ersten freiwilligen Soldaten der Bundeswehr ihre Ernennungsurkunden am 200. Geburtstag von General Gerhard von Scharnhorst bekamen – keinem Demokraten – einem überzeugten Verfechter der Monarchie. Das war am 12. November 1955. Tatsache ist auch, dass viele von denjenigen, die an diesem Tag ihre Urkunde erhielten, zuvor mehrere Jahre in der Wehrmacht gedient hatten. Die ersten Piloten, die im August 1957 auf der Airbase Luke im US-Bundesstaat Arizona auf der F-84 ausgebildet wurden, waren professionelle Flieger des Weltkrieges. Zwei von ihnen, Friedrich Obleser und Günther Rall, sollten später als Inspekteur der Luftwaffe die Teilstreitkraft prägen.

Am 12.11.1955, dem 200. Geburtstag von General von Scharnhorst, werden durch Bundesminister der Verteidigung, Theodor Blank, die ersten Ernennungsurkunden überreicht. (Quelle: Bundespresseamt/Archiv)

Eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft schlagen

Doch was hat das mit den Soldatinnen und Soldaten von heute zu tun? Wer von ihnen kennt die Geschichte der Bundeswehr? Wer von ihnen kann die Gesichter, die Einfluss auf die Entwicklung der deutschen Streitkräfte hatten, entsprechend zuordnen? Nicht für jeden ist das „Gestern“ identitätsstiftend. Ebenso wenig sind es die Namen vergangener Zeiten. Da beginnt der Spagat zwischen wissenschaftlicher Forschung, Meinungsbild der Öffentlichkeit, Politik und militärischer Tradition. Relikte früherer Epochen, wie das Eiserne Kreuz, sind noch heute fester Bestandteil der Bundeswehr. Und doch hat jeder Angehörige der deutschen Streitkräfte auch seine eigene Biografie und damit seine ganz eigene Verbindung zur Bundeswehr und zum Begriff „Tradition“.

Nicht ohne kritische Auseinandersetzung

Carl Friedrich von Weizsäcker, deutscher Physiker und Friedensaktivist, habe einmal gesagt: „Was den Menschen auszeichnet, ist nicht, dass er Geschichte hat, sondern dass er etwas von seiner Geschichte begreift.“ An diesen Ausspruch erinnerte der Inspekteur der Luftwaffe, Generalleutnant Karl Müllner, in seiner Rede. Dem fügte er hinzu, dass geschichtliche Kenntnisse, das Wissen um die Entstehung von Werten und Normen, aber auch die kritische Auseinandersetzung wesentlich zur soldatischen Erziehung gehören. So solle man nicht von vornherein Teile der eigenen Geschichte ausblenden. Man müsse die eigene Geschichte begreifen – auch die dunklen Seiten – und immer auch in einem historischen Zusammenhang betrachten. Dabei sei zu berücksichtigen, dass sich Maßstäbe über die Zeit ändern. Müllner forderte seine Truppe auf, Tradition zu entwickeln und zu leben – auf allen Ebenen. Denn von oben verordnete Tradition habe keine Substanz. Und die brauche es, damit die Soldatinnen und Soldaten daraus Kraft schöpfen können. „Jeder Einzelne hat seinen besonderen Anteil am gemeinsamen Erfolg.“

Müllner sah die Tagung als Chance für alle, sich mit der Geschichte der Luftwaffe kontrovers auseinanderzusetzen. Das Ziel: ein tieferes Verständnis der Tradition der Luftwaffe. (Quelle: Luftwaffe/Francis Hildemann)

Die Sache mit der Identität

Sönke Neitzel ist Professor für Militärgeschichte an der Universität Potsdam. „Militärkultur hat schon immer was Eigenes gehabt – auch wenn es aus der Politik entspringt.“, sagte er. Das Thema „Tradition“ sei bereits seit den 50er, beziehungsweise 60er Jahren auf politischer Ebene in der Diskussion. Was es so emotional und lebhaft mache? Es gehe um Identität. „Die Bundeswehr hat die DNA der Wehrmacht – was gesellschaftlich akzeptiert war – bis 1989: Pflichtfreude, Siegen wollen. Doch es gab auch Neues.“ Tradition sei nicht einfach so – Tradition sei immer auch ein Auseinandersetzungsprozess, der sich ändere. Zur Erneuerung des Traditionserlasses von 1982 sagte Neitzel: „2017 ging es los. Dabei war eine Anpassung immer schon angeregt – was man nicht wollte, um politische Diskussion zu vermeiden.“  So haben Traditionen immer auch was mit politischen Überzeugungen zu tun. Der Traditionserlass könne nur ein Rahmen sein. Entscheidend sei, was die Teilstreitkräfte daraus machen. Dabei sei auch die Ehrlichkeit der Politik wichtig. „Wofür wollt ihr die Bundeswehr haben?“

Auch Sönke Neitzel sprach auf der Tagung zur Tradition in den Streitkräften. Er lehrt an der Universität Potsdam. (Quelle: Luftwaffe/Francis Hildemann)

Der neue Traditionserlass

Die Veröffentlichung der aktualisierten, modernisierten und erweiterten Fassung des Traditionserlasses von 1982 ist zu Ende März diesen Jahres geplant. Der Erlass soll einen Handlungsrahmen bieten, der innere Stabilität und Identifikation mit der Truppe schafft. Antworten auf Fragen wie „Gibt es einen zulässigen Namenskatalog für Kasernen?“ oder „Wann beginnt die Tradition der Bundeswehr?“ wird es auch hier nicht geben. Der neue Traditionserlass gilt als Orientierung – etwa zu Werten, zu Normen. Zudem soll er die Grenzen der Traditionspflege aufweisen. Mehr kann der neue Traditionserlass wohl auch nicht sein. So lautet ein Ergebnis dieser Tagung: „Das ‚eine‘ Traditionsverständnis gibt es nicht.“

6. Militärhistorische Tagung der Luftwaffe

Alle zwei Jahre kommen hauptsächlich Luftwaffenuniformträger zu dieser Veranstaltung. Dann wird zu historisch-politischen Themen vorgetragen und darüber diskutiert. Diesmal waren 280 Teilnehmer vor Ort. Eingeladen sind grundsätzlich alle, die Interesse haben, bei einer solchen Tagung dabei zu sein – nicht nur Soldaten. Die nächste Militärhistorische Tagung der Luftwaffe findet voraussichtlich wieder in Berlin statt, im Jahr 2020.

Hier können Sie ein Interview von Radio Andernach mit dem Inspekteur der Luftwaffe zur 6. Militärhistorischen Tagung hören:

Im Interview mit Radio Andernach stand Generalleutnant Karl Müllner Rede und Antwort zum Thema „Tradition“ und zur Tagung. (Quelle: Luftwaffe/Francis Hildemann)

Nachgefragt

Die Luftwaffe hat nach dem Traditionsverständnis aus Sicht der Truppe gefragt:
Was verstehen die Soldaten unter Tradition?
Was wird als typische Luftwaffentradition gesehen?
Wie ist die Haltung zu Verbandstraditionen und Namensgebern?

Die Umfrage hat ergeben, dass die Vorstellungen der politischen Ebene von denen der Truppe abweichen. Demnach tendieren die Befragten dazu, erlebbares Brauchtum als Tradition anzusehen, weniger den intellektuellen Prozess, wie im bisherigen Erlass beschrieben. Zudem sei die Idee vom „Team Luftwaffe“ zentraler Bestandteil des gelebten Traditionsverständnisses.

Die Projektgruppe, die die Umfrage erhoben hat, bestand aus zwölf Soldaten, die aus insgesamt neun Verbänden kamen. Darunter waren:
Fliegende Verbände,
das Flugabwehrraketengeschwader 1,
Kommandobehörden,
Unterstützungsverbände,
und Ausbildungseinrichtungen der Luftwaffe.

Die Daten wurden mittels elektronischem Fragebogen und Fragebogen in Papierform erhoben. Im Zeitraum vom 11.11.2017 bis 19.01.2018 kamen 970 vollständig beantwortete Fragebögen zurück an die Projektgruppe glucophage xr koupit.

Da es sich bei der Umfrage um eine stichprobenartige Erhebung handelt, sind die Ergebnisse nicht repräsentativ. Sie sollen lediglich dazu dienen, ein grobes Stimmungsbild der Truppe einzufangen.

Autor: Elisabeth Schöneberg

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