„Wir holen euch raus!“ – Evakuierungsübung in Potsdam

„Wir holen euch raus!“ – Evakuierungsübung in Potsdam

Die staatliche Ordnung ist zusammengebrochen, bürgerkriegsähnliche Zustände, Hilfsorganisationen sind nicht mehr vor Ort. Die Lage in Atrea ist kritisch. Die Bundeswehr holt die deutschen Staatsbürger in Atrea zurück nach Hause. Nur ein Spiel? Nein. Was in Potsdam geübt wird, kann jederzeit Realität werden.


Atrea gibt es nicht wirklich. Doch für die Übung „Extricate Owl 2017“ (auf Deutsch: Befrei‘ die Eule) wird eine Lage erzeugt, die an Komplexität kaum zu steigern ist. Atrea, gelegen an der Westafrikanischen Küste, ist ein beliebtes Urlaubsland der Deutschen. Doch in dem fiktiven Krisenland entfacht sich ein Bürgerkrieg. Über 2.500 Deutsche und 150 weitere EU-Bürger geraten zwischen die Fronten von Rebellen und der korrupten Regierung. Mit der Bundeswehr kommen sie wieder sicher nach Hause.

 

Atrea gibt es nicht wirklich. Aber für die Übungen wurden auch Landkarten erstellt. (Falk Bärwald/Luftwaffe)

 

Die Situation eskaliert

 

Wenn die Lage in einem Land immer angespannter wird, überschlagen sich die Medien mit den neusten Meldungen und Bildern. Das Auswärtige Amt beginnt mit Reisewarnungen. Es bittet deutsche Staatsbürger, das Land zu verlassen. Wird es zu heikel, wird evakuiert. Erst durch das Auswärtige Amt – später durch die Bundeswehr. In letzter Konsequenz holen bewaffnete Kräfte deutsche Staatsbürger in die Heimat zurück. Das sind Evakuierungsoperationen, an denen – wie bei der Übung Extricate Owl, dort aber nur auf dem Papier – bis zu 1.600 Soldaten oder auch mehr beteiligt sein können. Dann reißen sich die Medien um die besten und dramatischsten Bilder aus dem betroffenen Land. Was selten zu sehen ist: Die Operationszentrale (OPZ), in der die unzähligen Fäden der komplexen Operation zusammengehalten und koordiniert werden.

 

Vom Ferienflieger bis zum bewaffneten Einsatz

 

Soldaten aller Teilstreitkräfte sind in permanenter Absprache untereinander. (Falk Bärwald/Luftwaffe)

 

Je nach Bedrohungslage unterscheidet sich die Art und Weise der Rückholung von deutschen Staatsbürgern. Bei geringer Bedrohung gibt es die sogenannte „Abholung“. Dazu wird eine zivile Passagiermaschine gechartert, mit der schnellstmöglich alle Deutschen ausgeflogen werden. Bei der zweiten Möglichkeit handelt es sich um einen Transport in Flugzeugen der Luftwaffe. Diese sind mit einer Selbstschutzanlage ausgerüstet, die bei Beschuss das Flugzeug sichert. Die Bundeswehr leistet bei Abholungen Amtshilfe für das Auswärtige Amt.

 

Mit steigender Bedrohungslage wächst auch die Verantwortung der Bundeswehr. Wird die Situation im betroffenen Land zu „heiß“, geht die Verantwortung an die Bundeswehr über. Man spricht dann von einer militärischen Evakuierung. „Der erste Teil der Operation ist stark luftwaffendominiert. Mit den Transall-Transportflugzeugen ist die Bundeswehr in der Lage, schnell und sicher im Einsatzland zu landen und das Land auch schnell wieder zu verlassen“, sagt Oberst Gräfe, Leiter des Einsatzstabes. Hat das Land – wie Atrea – eine Küste, kommt auch die Marine in Betracht. Wenn ein Schiff vor die Küste des Krisenlandes geholt werden kann, bereiten sich auch die Seeleute auf eine Evakuierung von Staatsangehörigen vor.

 

Werden die Transall von Soldaten gesichert, spricht man von einer „Schnellen Evakuierung“. Geführt durch das Einsatzführungskommando der Bundeswehr landen die Transportmaschinen der Luftwaffe auf den Flugplätzen des Krisenlandes und werden im Nahbereich durch AMPT [Akronym: Air Mobile Protection Team] gesichert. Das sind speziell ausgebildete Soldaten des Objektschutzregiments, die den inneren Ring direkt um das Flugzeug sichern. Den äußeren Sicherheitsring um den Flughafen bilden Fallschirmjäger des Heeres. Diese kommen in den Flugzeugen an, mit denen die Deutschen evakuiert werden. Bei diesem Fall wären bis zu 200 Soldaten im Einsatz.

 

Es wird brenzlig in Atrea

 

Soldaten aus verschiedenen Luftwaffenverbänden prüfen die Verfügbarkeit von Luftfahrzeugen und zeigen eventuelle Landeplätze. (Falk Bärwald/Luftwaffe)

 

Bei der Übung Extricate Owl ist es auch dafür zu gefährlich. Die Lage in Atrea ist so angespannt, dass die deutschen Staatsbürger nicht mehr selbstständig zu den Flughäfen können. „Hier kommt es zu einer Robusten Evakuierung“, sagt Oberst Gräfe. Die Deutschen sammeln sich also an verschiedenen vorher festgelegten Punkten. Dort werden sie zum Beispiel mit Bussen von bewaffneten Fallschirmjägern abgeholt, um dann per Flugzeug und mit einer Fregatte in Sicherheit gebracht zu werden. Es handelt sich – wie bei der „Schnellen“ – ebenfalls um eine militärische Evakuierungsoperation. „Dann dürfen die Soldaten sich nicht nur selbst verteidigen, sondern auch militärische Gewalt einsetzen, um ihr Umfeld zu sichern. Wenn ein Transportflugzeug der Bundeswehr zum Beispiel auf einem Flughafen landen muss, wo keine Sicherheitskräfte mehr arbeiten“, sagt der 48-jährige Oberst.

 

Das Auswärtige Amt sorgt dafür, dass sich alle deutschen und weiteren Schutzbefohlenen an festgelegten Punkten sammeln. Das sind zum Beispiel Firmengelände oder Hotels, die bei vorherigen Erkundungen festgelegt werden. Dazu fahren Soldaten des Einsatzführungskommandos und des Auswärtigen Amtes in sämtliche Länder der Erde und erkunden die Möglichkeiten vor Ort. Einer von Ihnen ist Oberstleutnant Kai O. Er ist seit einem Jahr im Einsatzführungskommando und war bereits in mehreren Ländern, , um eine eventuelle Evakuierung aus diesen Ländern vorzubereiten. „Insgesamt sind im Einsatzführungskommando bereits 108 Länder gelistet, was eine schnellere Evakuierung ermöglicht“, sagt der ehemalige Eurofighterpilot. „Im Ernstfall kann hier quasi jederzeit ein Ordner aus dem Regal gezogen und unmittelbar mit den ersten Maßnahmen begonnen werden.“

 

Eine Evakuierung kann jederzeit erforderlich werden

 

Extricate Owl 2017: Das Drehbuch ist vom Logo bis zum Luftbild komplett durchgeplant. (Falk Bärwald/Luftwaffe)

 

Bei Extricate Owl 2017 hat Oberstleutnant Kai O. die Planung der Übung übernommen. In einem minutiös geplanten Drehbuch ist jede Kleinigkeit festgehalten, mit der die 84 übenden Soldaten konfrontiert werden. Wegen der komplexen Inhalte hat das fast ein Jahr gedauert. Oberstleutnant Kai O. greift dabei auf Erfahrungen der Vergangenheit zurück. Allein seit 2013 gab es neun Planungen für Evakuierungsmissionen, bei denen die Operationszentrale im Einsatzführungskommando aktiv wurde. Bei vier wurde sie auch durchgeführt. Ob sich eine Lage entspannt oder zuspitzt, kann dabei nie vorhergesagt werden.

 

In der Operationszentrale werden die Auslandseinsätze der Bundeswehr geführt und überwacht. Eine weitere OPZ ist permanent mit der jeweiligen IT-Ausstattung vorbereitet und kann innerhalb weniger Stunden arbeitsbereit sein, um eine nationale Operation zu führen – egal ob es sich um eine Naturkatstrophe handelt oder um eine militärische Evakuierung. Bei der Rückholung deutscher Staatsbürger darf keine Zeit verloren werden. Auch die Luftwaffe hat Soldaten in ständiger Bereitschaft, die sofort sagen können, an welchen Standorten Transportmaschinen für eine Evakuierung bereit stehen.

 

Täuschend echtes Szenario

 

Die großen Bildschirme der OPZ zeigen Pressemeldungen, Zeitpläne und verschiedene Landkarten der Region. Überall klingeln Telefone, per Mail kommen Mitteilungen von verschiedenen Organisationen, Behörden, dem Bundesnachrichtendienst und dem Verteidigungsministerium. Doch nichts davon ist echt. Alle Informationen stehen im Drehbuch von Oberstleutnant Kai O. Er ist Leiter des mehr als 120-köpfigen Leitungspersonals. Ein Teil von ihnen sorgt für ein täuschend echtes Gefühl der gesamten Übung. Dazu kommen Schiedsrichter, die das Verhalten der übenden Soldaten in den jeweiligen Situationen beobachten und bewerten.

 

Mit den Fallschirmjägern aus dem Land

 

Oberst Frank Gräfe telefoniert als Leiter der Einsatzzentrale mit Dienststellen in ganz Deutschland und mit Verbindungsoffizieren im Ausland. (Falk Bärwald/Luftwaffe)

 

Bei Extricate Owl steuert das Auswärtige Amt, dass sich die Zivilisten an einem Hotel und auf dem Gelände einer deutschen Firma sammeln. In der vergangenen Woche haben bereits Deutsche das fiktive Land in einem Luftwaffen-Transportflugzeug verlassen. Doch die Sicherheitslage ist mittlerweile unkontrollierbar und die Flugplätze Atreas können nicht mehr angeflogen werden.

 

Die Fallschirmjäger organisieren fünf Busse, um die letzten Deutschen aus dem Land zu bringen. Beschützt werden sie von den Soldaten und gepanzerten Fahrzeugen. In der OPZ atmen alle auf, als die Info kommt. „Alle Deutschen haben das Land verlassen.“

 

Niemand will in die Situation kommen, im Urlaubsland festzusitzen. Aber Oberst Frank Gräfe weiß um die Leistungsfähigkeit seines Einsatzstabes. Seine Botschaft ist einfach: „Ihr könnt beruhigt in den Urlaub fliegen. Wir holen euch wieder raus.“

 

Bei jeder Besprechung mit dabei: Die Rechtsberater des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr. (Falk Bärwald/Luftwaffe)

Infokasten:

Zweck von Extricate Owl 2017 ist ein möglichst realitätsnahes Üben militärischer Evakuierungsoperationen. Die eskalierende Lage in Atrea bildet die Basis für den eventuellen Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte zum Schutz und zur Rettung deutscher Staatsangehöriger sowie weiterer Schutzbefohlener. Dabei greifen die Fähigkeiten der einzelnen Teilstreitkräfte der Bundeswehr eng ineinander. Vorhandene Prozesse und Verfahren werden überprüft. Zur rechtlichen Absicherung ist auch einer der zehn Rechtsberater des Einsatzführungskommandos dabei, die dem Befehlshaber der Potsdamer Dienststelle mit juristischer Expertise zur Seite stehen und Grenzen und Möglichkeiten des Handelns situationsangepasst aufzeigen.

 

Autor: Philipp Rabe/Luftwaffe

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